13.11.2021 / Selina Beghetto

Wortmassagen zum Frühstück

Als ich das Haus verlasse, tropft es auf meinen Kopf. Ich blicke einmal mehr Richtung grauen Himmel. Diesmal bleibe ich bewusst stehen, um das Risiko einer erneuten Asphaltlandung möglichst zu minimieren. Regen, welch ein Glück. Perfektes Festivalwetter, denke ich. Heute bin ich etwas früher dran als gestern und habe es sogar geschafft, den Kaffee im Sitzen zu trinken. Was der Achtsamkeit entgegenkommt, bringt ein strategisches Problem mit sich: Ich habe Mühe aufzustehen. Die Müdigkeit hockt tief in den Knochen. In der Garage wartet der 25er Flyer. Meine kleinen Augenringe und ich machen uns auf den Weg nach Zug. Wir sind bereit für Tag 2 am Literaturfestival 'Höhenflug'.

Eine Stunde später stehe ich vor dem Burgbachkeller und klopfe etwas unbeholfen an die Scheibe. Niemand hört mich. Ich strenge mich an, winke und klopfe nochmal. Hallo? Hört mich jemand? Irgendwann erblickt mich die Frau an der Kasse und zeigt freundlich zum Eingang. Aha. Ich stehe tatsächlich am falschen Ort. Guten Morgen! Erste Erkenntnis des Tages: Ein Kaffee reicht noch nicht, um die kurze Nacht aus dem System zu jagen. Nächster Versuch. Der Cappuccino an der Theaterbar bewirkt zum Glück ein kleines Wunder. Die letzten Menschen huschen durch das Foyer in den Saal und suchen sich einen Platz. Der Regen hat sie alle zum 'Höhenflug' gespült. Der Tag beginnt vor vollen Reihen.

Walter Schüpbach (Foto: sb)

6 x 15 Minuten

Sechs Mitglieder des ISSV - dem Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein - lesen jeweils (plus ou moins) eine Viertelstunde und zeigen dem zahlreichen Publikum auf, wie unterschiedlich Literatur sein kann. Vereinspräsident Daniel Annen begrüsst und stellt allem voran klar, dass am Büchertisch auch wirklich Bücher gekauft werden können. Er sei dies gefragt worden und ich frage mich, ob ich wohl nicht die einzige bin, die vielleicht noch nicht ganz wach ist. Ein erstes Lachen erfüllt den Burgbachkeller und lebt gleich ein zweites Mal auf, als kurz darauf Peter Weingartner die Bühne betritt und laut verkündet: "Ich habe mich nicht verkleidet, ich bin nicht Frau Götschi." Als Ersatz für die kurzfristig verhinderte Silvia Götschi gibt Weingartner Einblick in seine Kriminalgeschichten, während sich die allerletzten Gäste in die Dunkelheit schleichen. Walter Schüpbach begeistert als zweiter Leser mit sprachstarken Gedichten und hinterlässt einen bleibenden Eindruck - sowohl bei der Festivalleitung als auch beim Publikum.

Der Mond ist wie ein angebissenes Brot, aber die Sonne ist die Sonne.

Walter Schüpbach

Vor der ersten Mini-Pause fliegen viele bitterböse und unglaublich pointierte Aphorismen von Felix Renner durch den Raum. Mit sehr viel Charme und nicht weniger Humor liest der pensionierte Jurist Sätze vor, die zwischen Kopf und Herz hängen bleiben. Einige davon habe ich mitgeschrieben:

"Vom Leben berührt zu werden, heisst von Lebenden berührt zu werden."
"Die Lebenden werden mit Beton, die Toten mit Blumen beglückt."
"Wahrnehmen macht lebendig, meinen lähmt."

Nach der kurzen Kaffeepause erwacht der Burgbachkeller endgültig zum Leben. Menschen mit roten Wangen und vereinzelt nassen Haaren setzen sich wieder zurück in den Zuschauersaal. Auf der Bühne strahlt Leonor Gnos. Die Autorin, extra aus Marseille angereist, nimmt uns mit in ihre französische Küstenstadt und erzählt von Heimat und der Fremde, dem Leben auf der Seelenseite und von der Schönheit der Wiederholung. Und plötzlich ist sie da, die Wärme des Südens, während draussen der Regen unaufhörlich auf die Zuger Dächer trommelt.

Das Gegenteil von Heimat ist das Elend, sagen sie.

Leonor Gnos

Die zweitletzte Lesung zieht mich und viele weitere Menschen im Saal unweigerlich in ihren Bann. Mit seiner Kurzgeschichte, einer Hommage für einen alten Schulkameraden, meistert Carlo von Ah den anspruchsvollen Spagat zwischen leichter Heiterkeit und tief gehender, tragischer Realität auf grandiose Art und Weise. Als würden Bilder in Echtheit gezeichnet, sehe ich Oskar mit seiner Lebensgeschichte an mir vorbeiziehen. Der versteckte Schalk tut gut - nicht nur im Kontext der grossen erzählten Armut, sondern auch in Anbetracht des aktuellen Zustands der Welt.

Den Abschluss des Morgens macht Spoken Word Autorin Judith Stadlin, die mir und dem restlichen Publikum viele neue Schweizerdeutsche Wörter um die Ohren pfeffert und eindrücklich unter Beweis stellt, wie viel Schönheit in einem einzelnen Dialekt steckt. Eine kleine grosse Show mit anhaltender Wirkung. Kurz vor Zwölf leert sich der Burgbachkeller, knurrende Mägen machen sich auf den Weg in den Ochsen oder verschwinden in den Gassen der Altstadt. Was zurückbleibt ist die Erkenntnis, dass Literatur viele Kostüme trägt und immer wieder für eine Überraschung gut ist.


Bleibende Fragen nach dem heutigen Morgen:

Wer von den sechs Autor:innen war so nervös, dass er/sie nicht mal einen Kaffee trinken konnte?
Wer hat das alte Zugerdütsch von Judith Stadlins Performance wirklich verstanden?
Braucht es im Theater im Burgbachkeller ein Mikrofon oder nicht?

Gibt es unterschiedliche Vorstellungen von einer Viertelstunde?


13.11.2021 / Selina Beghetto

12.11.2021 / Pascal Zeder

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