Ich fliege auf die Nase. Dieser verflixte Nebel, denke ich. Hätte ich mir doch nur ein 40er E-Bike gekauft, denke ich weiter und fluche. Verschwitzt komme ich im Dorf an, stelle den 25er Flyer polternd an den Fahrradständer und renne los. Der Nebel hüllt alles in sein weisses Kleid. Kein Bus in Sicht. Ich hebe den Kopf, schliesse für einen Moment die Augen und schicke ein stummes Danke Richtung grauen Himmel. Eine halbe Sekunde später liege ausgestreckt auf dem Trottoir. Der Nebel hat nicht nur meine Füsse verschluckt, sondern auch den Randstein. Auf dem Weg zum ‘Höhenflug’ fliege ich als erstes auf die Nase. Ich muss lachen. Aus dem Nichts erscheint der 61er Bus. Ich stehe auf und steige ein. Meine Knie ächzen, doch die Jeans ist noch ganz, die Schuhe auch. Wenigstens etwas. Ich nehme mir vor, zukünftig früher loszufahren. Mir ist warm. Ein Schweisstropfen fällt von meiner Schläfe ins Ungewisse.
Zwanzig Minuten später. Der Bahnhof Luzern gleicht einem riesigen Wimmelbild. Menschen in Fussballtrikots füllen mit ihren Körpern und Stimmen Strassen und Busse und für einen kleinen Augenblick überlege ich, wie es wäre, wenn Kulturveranstaltungen auch so viele Fans hätten. Gleichzeitig kann ich es kaum erwarten, mich in die Gemütlichkeit des Burgbachkellers zu verziehen. Endlich mal wieder was auf die Ohren. Und das nach so einer langen Durststrecke. Ich bin etwas aufgeregt. Lesen ist eine intime Beziehung. Sie besteht aus dem Buch und mir. Wir begegnen uns meistens weit weg von der Welt sind, die uns umgibt. Gemeinsam tut sie sich uns neu auf. Heute teile ich diesen Zauber mit anderen Menschen. Der Gedanke daran macht mich sehr glücklich.
Auf dem Weg zum Theater blitzt eine Erinnerung auf. Ich sehe nona, meine Grossmutter, vor mir, die mir als Kind unzählige Geschichten vorgelesen hat. «Amo üna per plaschair», bat ich sie jeweils, «noch eine bitte», und schaute sie mit grossen Augen an. «Diesen Rehaugen kann man wirklich keinen Wunsch ausschlagen», hörte ich dann jeweils bazegner, meinen Grossvater, sagen. Gewisse Dinge ändern sich wohl nie. Sich etwas vorlesen zu lassen, gehört bis heute zu etwas vom Schönsten, was ich mir vorstellen kann. Die Vorfreude auf den heutigen Abend wächst mit jedem Schritt, der mich näher ans Literaturfestival bringt. Im Burgbachkeller angekommen ist alles noch still. Menschen finden langsam ihren Weg ins Foyer, leises Stimmengewirr vermischt sich nach und nach mit dem hellen Klirren der Gläser. Der Büchertisch füllt sich mit gesammelten Worten unterschiedlichster Menschen und zieht das Publikum magisch an. Meine Hand fährt sorgfältig über die Bücherdeckel, ich spüre die verschiedenen Oberflächen und die Neugier in meinem Bauch. Wenig später geht das Licht auf der Bühne an und im Zuschauersaal aus.
Über die Liebe
Der heutige Abend lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: Liebe. Im altindischen Sanskrit gibt es, im Gegensatz zum Deutschen, etliche Begriffe dafür. Diese unterscheiden sich jeweils in ihrer Bedeutung und zeigen dadurch das breite Spektrum des Wortes auf: Das Verliebt sein, die göttliche Liebe, die Liebe für das Herkunftsland, die verschiedenen Lebensfreuden wie tanzen, singen, reisen und spielen, die entschwindende Liebe oder die Sehnsucht nach dem Wald. Die beiden Lesungen von Noëmi Lerch und Meral Kureyshi waren als Gesamtpaket (nicht zuletzt dank einer herzallerliebsten Moderation von Gertrud Leutenegger bei Noëmi Lerch, die wiederum gekonnt und mit viel Charme Meral moderierte) eine herzliche Einladung, in viele dieser Lieben einzutauchen – sei es mit Noëmi in die wunderbare Welt der Natur und ihren Bewohner:innen, oder mit Meral, die in ihrem Roman «Die fünf Jahreszeiten» unterschiedliche Formen und Farben von Liebe beschreibt. Was bleibt ist das warme Gefühl, das einen umhüllt, wenn die Worte unter die Haut kriechen und dort verweilen.
Ein kurzer Blick auf den Büchertisch: Alles was das Herz begehrt. (Foto: sb)
Liebesform: Listen
Ich verstehe Listen als eine Form von Liebe. Sie erlauben mir, etwas Ordnung in die Unordnung der Welt zu schaffen. Listen vermitteln das Gefühl von Struktur, wo eigentlich keine möglich ist. Passend zur Erkenntnis des Abends, dass sich heute vieles um die Liebe gedreht hat, hielt ich es für logisch, sie als Mittel einzusetzen. Ich habe insgesamt fünf Listen erstellt. Die erste beinhaltet Adjektive, die in Zusammenhang mit dem heutigen Anlass gefallen sind (Liste nicht vollständig). Die zweite ist ein selbsterklärender Fragenkatalog, die dritte fasst gehörte und gespürte Highlights zusammen, während die vierte Liste Erkenntnisse teilt. Was es mit der fünften auf sich hat, erfährt ihr unten.
- Adjektive
- Warm
- Herzlich
- Neugierig
- Bunt
- Alt
- Gewaltig
- Berührend
- Überwältigend
- Rosarot
- Liebevoll
- Lässig
- Schön
- Wohltuend
- Heilend
- ...
- Fragenkatalog
- Wo sind alle jungen Literaturinteressierten?
- Regnet es morgen?
- Wenn man stirbt, lässt man etwas zurück oder nicht?
- Sollte man vor oder nach der Lesung etwas essen?
- Wie ist es mit Alkohol?
- Schreibt es sich besser mit einem Glas Wein intus?
- Ist es Herbst oder Winter?
- Hat es genügend Exemplare auf dem Büchertisch?
- Was hast du da auf deinen Socken?
- Kommen viele Leute?
- Lebt es sich am besten, wenn man von allem ein bisschen nimmt?
- Wie wäre es, wenn Autor:innen nicht ihre eigenen Texte lesen würden, sondern jene von anderen Autor:innen, die sie mögen?
Nicht alle Fragen lassen sich beantworten, das wusste schon Rilke. Stattdessen sollen wir sie leben, meinte er, und vielleicht leben wir eines Tages, ohne es zu merken, in die Antworten hinein. Aber eine (welche das ist, lasse ich euch raten) lässt sich mit Sicherheit beantworten: Faultiere
- Highlights
- Noëmis Liebesbrief und die Geburtsbeschreibung
- Die spürbare Liebe von Gertrud für Noëmi und ihre literarische Arbeit
- Wie Meral und Noëmi sich ins Wort gefallen sind (siehe Zitate)
- Merals legendäre Blätterperformance
- «Dörfsch näb mer sitze wännd ned schnorrsch.» - Älterer Herr zu älterem Herrn
- Erkenntnisse
- Diktiergerät bzw. Audiofunktion des Handys einschalten
- Vorlesen ist immer noch etwas vom Schönsten der Welt
- Gemeinsam Geschichten lauschen macht glücklich
- Liebe, Liebe und noch mehr Liebe
- Manchmal muss man die Welt etwas lustiger machen, als sie ist
- Wenn Noëmi in der Deutschschweiz liest, reisen Menschen von Bern nach Zug um sie zu hören
- Meral hat zwar Zetteli in ihrem Buch kleben, liest aber was sie will
- Wenn die Kühe auf der Weide nicht zu aktiv sind, lässt sich draussen ein Buch schreiben
- Menschen können Texte zum Leben erwecken
- Die erste Liebe ist für immer, die zweite ist nicht selbstverständlich und die dritte ist am nächsten beim Tod
- Zitate
- «Tut doch was, geht zu dritt ein Bier trinken. Oder wohnt zusammen…» - «Nein, schrecklich. Noëmi!»
- «Es muss ja nicht immer etwas passieren.» - Meral
- «Ein Fremder kann über Nacht zur wichtigsten Person werden.» - Meral
- «Die Stille legt sich auf die Fassaden.» - Meral
- «Die Jahreszeiten tragen einem.» - Noëmi
- «Jeder Alpsommer ist ein neues Leben.» - Noëmi
- «Komik ist das Schwerste, aber wenn es gelingt, ist es das Allerschönste.» - Noëmi
- «Freiheit ist nichts anderes als nichts zu verlieren zu haben.» - Noëmi
- «Im Jenseits wächst das Gras so hoch, dass du deinen Kopf zum Fressen nicht senken musst.» - Noëmi
- «Du schaffst es ganz bei dir zu sein und gleichzeitig tut sich ein ganzer Horizont auf.» - Gertrud über Noëmi
- «Ich stehe auf und gehe weg.» - Meral
Resultierend aus der obigen Erkenntnis, dass ich die Audiofunktion meines Handys hätte einschalten können, aber nicht daran gedacht habe, lässt mich mit folgender Problematik zurück: Ich habe im Halbdunkeln versucht, Zitate aufzuschreiben. Manchmal ist es mir geglückt, manchmal hat mein Hirn ein bisschen ausgesetzt. Die abgetippten Zitate sind also wahr oder halb wahr, aber immer mit bestem Willen festgehalten – ohne Garantie. Was ich aber versichern kann: Wir fliegen weiter (am liebsten nicht auf den Asphalt.) Ich freue mich auf den morgigen Tag, u.a. mit Buchpreis-Gewinnerin Martina Clavadetscher, Demian Lienhard und vielen mehr.
«Ich stehe auf und gehe weg.» - Fünf Jahreszeiten, Meral Kureyshi und das Wort zur Nacht. Bis morgen! (Foto: sb)