Der erste Satz muss sitzen. Was ich schon längst weiss, wird mir heute mal wieder schmerzlich bewusst. Der Autor Flavio Steimann gibt in seiner Lesung mit einem schelmischen Augenzwinkern zu, dass er in der Buchhandlung jeweils die Bücher aufschlägt und den ersten Satz liest. Oh nein, denke ich. Streng dich an. Schreib was gutes, sei kreativ! Nun ist es zu spät. Der erste Satz steht schon da, schwarz auf weiss. Besonders originell ist er nicht. Das Gute ist, es wird noch viele erste Sätze geben. Und schliesslich braucht es auch Folgesätze. Zum Beispiel: Mit Mittagessen und Festivalmorgen im Bauch finden die Menschen ihren Weg zurück in die Wärme des Burgbachkellers. Die Kirchenuhr schlägt zweimal. Der Literaturmarathon nimmt seinen Lauf. Auf dem Programm sind vier weitere Lesungen und ein musikalisch-literarischer Schlusspunkt. Ich versuche mich zu sammeln. Mit Kaffee und drei schnellen, aber tiefen Atemzügen an der frischen Luft. Es regnet noch immer.
Über das Unheimliche
Martina Clavadetschers Herz schlägt sowohl für das Theater als auch für die Literatur. Am vergangenen Sonntag jedoch definitiv stärker für Letzteres, wie sie schmunzelnd zugibt. An diesem Tag erhält die Schwyzer Autorin den Schweizer Buchpreis für ihren Roman "Die Erfindung des Ungehorsams". Die Freude darüber ist bei allen gross. Seitdem steht alles Kopf. Heute ist sie hier und liest im schützenden Gewölbe des Burgbachkellers aus ihrem neusten Werk. Das Publikum sucht sich sichtlich vorfreudig einen Platz und während am Morgen noch der eine oder die andere nachträglich in den dunklen Saal gestolpert war, bleibt es diesmal ruhig. Mucksmäuschenstill sitzen alle da, bevor warmer Applaus die Stille durchbricht und den Nachmittag eröffnet. Martinas unverkennbare Sprache geht tief, verstört und stellt Fragen in den Raum, die erst einen Moment zwischen Scheitelpunkt und Decke verharren, bevor sie sich langsam auf die Schultern der Hörenden legen und ihren Weg unter die Haut finden. In ihrer Geschichte verschwimmen Grenzen, künstliche und echte Menschen geben sich die Hand. Das sei eine ganz bewusste Entscheidung gewesen, so die Autorin. Themen wie Hyperindividualisierung, Isolation und Einsamkeit tauchen auf und bleiben für alle sichtbar liegen. Auf die Frage von Theres hin, ob sie sich vor künstlichen Intelligenzen fürchtet, antwortet Martina: "Ich fürchte mich vielmehr von den Menschen, die das programmieren und dann die Verantwortung abgeben." Die künstliche Intelligenz an sich ist nichts gefährliches, im Gegenteil - sie könnte nützlich sein, beispielsweise um die unausweichliche Klimakatastrophe abzuwenden. Doch das wolle niemand hören. Im Zuschauersaal wird es noch mucksmäuschenstiller. Touché.
- Bleibende Fragen
- Wofür schlägt dein Herz?
- Ist nicht alles etwas beseelt?
- Was macht ein Mensch aus?
- Warum geschieht Unerwartetes?
- Eingefangene Aussagen
- Theres: "Ich bin dir voll auf den Leim gegangen." - Martina: "Genau das wollte ich."
- Theres: "Es wird mir immer unheimlicher." - Martina: "Gut so."
- Lieblingssatz
- "Leben ist der ursprünglichste aller Befehle."
Willkommen zurück, da bin ich wieder!
Nach einer kurzen Signier- und Verschnaufpause begrüsst Martina Clavadetscher mit diesen Worten das Publikum, das mit rosigen Wangen und ersten Gläsern Wein den Saal betritt. Seitenwechsel. Auf dem Autor:innenstuhl sitzt Demian Lienhard, Martina übernimmt die Rolle der Moderatorin. Eine Premiere. Ich merke, wie ich mich in einen Schwamm verwandle. Das passiert manchmal, meistens in solchen Kontexten, wo vieles um mich herum passiert und ich nicht schnell genug bin, das Erfasste zu verarbeiten. Festivals sind ein gutes Beispiel dafür. Informationen fliegen mir entgegen und ich sauge auf. Nur tropft es dann irgendwann. Hallo Überdosis. Ich schaue um mich, ein paar Stühle weiter links sitzen ein Mann und eine Frau, die bislang jeder Lesung gelauscht haben. Ich bin beeindruckt. Ob sie sich auch als Schwamm fühlen? Noch bevor ich mir vornehmen kann, sie danach zu fragen, gehts auf der Bühne los. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte: Bauchmuskelkater ist ein Ding. Und ich bin überzeugt, dass einige aus dem Publikum heute morgen erwacht sind und sich gefragt haben, was das ist, was da um den Bauchnabel herum so zieht. Barbagiat, sage ich. Muskelkater vor lauter Lachen. Danke an dieser Stelle, Demian!
Bevor Viktor zu uns kam, war er arbeitslos. Danach auch.
Demian Lienhard
Sein Debütroman "Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat" hat nicht nur Martina so sehr begeistert, dass sie Demian kurzerhand als Autor zum 'Höhenflug' eingeladen hat, sondern geht auch am Büchertisch weg wie warme Weggli. Ich habe Glück, das letzte Exemplar findet seinen Weg in meine Tasche. Mit viel Witz und gekonnter Manier lässt Demian das Publikum in die Welt seiner Geschichte eintauchen - auch hier verschwimmen die Grenzen zwischen echt und fiktiv: "Es spricht zu einem, klingt schizophren, ist aber so!", meint Demian und Martina erwidert mit einem Grinsen: "Jaja, ich kenns." Erneutes kollektives Lachen, das eine Leichtigkeit in den Burgbachkeller bringt. Und plötzlich wird aus einer Stunde ein kurzer Augenblick. Was bleibt ist die Lust, eine Polenta und den Rest des Buches zu verschlingen.
Gegen das Vergessen
Dass Bücher geschrieben werden, um Geschichten zu erzählen, ist keine neue Erkenntnis. Welche Geschichten das aber sind und wie man sie auswählt, da wird es interessant. Flavio Steimann mag nicht nur erste Sätze (siehe oben), sondern gibt jenen Menschen eine Stimme, die von der Vergangenheit beinahe verschluckt worden wären. Seine Geschichten spielen um die vorletzte Jahrhundertwende. Die Figuren und Schauplätze beschreibt er mit ausgesprochener Präzision und Feingefühl. Wenn er liest, reist seine ruhige Stimme ebenso ruhig durch den Raum und taucht ihn in die Farben einer anderer Zeit. Die spürbar grosse Recherchearbeit seines literarischen Werks zahlt sich aus. Unbekannte Wörter reihen sich an halberfundene Namen und entführen die Zuhörenden in die Schönheit des Napfgebiets. Mein Dramaturgieherz schlägt höher.
Auch das Kind wird nicht lange leben.
Flavio Steimann
Steimann sowie sein Moderator Michael Guggenheimer hinterlassen auch beim restlichen Publikum einen bleibenden Eindruck. Gekonnt navigieren sie zwischen Lesung und Gespräch hinterher, stets von einer wohltuenden Ruhe umgeben. Mein Dasein als Schwamm erhält in dieser Hinsicht eine Verschnaufpause, wobei das Tropfen weitergeht. Denn auch Steimann wühlt auf, sein neuster Roman "Krumholz", inspiriert von einem realen Verbrechen aus dem Jahr 1914, zieht die Hörenden unweigerlich in die Geschichte der beiden Hauptfiguren hinein und lässt sie nachdenklich zurück.
PS. Das obige Zitat ist Flavio Steimanns erster Satz in "Krumholz". Wie gut ist der bitte?!
PPS. Tipp: Michael Guggenheimers Website "Buchort"
Schrumm. Schrumm.
Womöglich fragt ihr euch jetzt, was dieser Titel bedeutet. Wer in der Lesung von Gabrielle Alioth sass, erinnert sich vielleicht. Für alle andern bleibt es vorerst ein Rätsel. So viel sei verraten: Es ist ein Geräusch. Die Antwort befindet sich in Alioths soeben neu erschienenen Roman "Die Überlebenden". Die Autorin verfasst ihn auf Deutsch und wer sie kennt, weiss, dass sie ebenfalls auf Englisch schreibt. Im Alter von 29 Jahren wanderte die Baslerin nach Irland aus und pendelt heute zwischen dem Inselstaat und der Schweiz hin und her. Wobei sie mehr Zeit in Irland verbringt, fügt sie lachend hinzu. Englisch sei im Verlauf der Jahrzehnte zur Herzenssprache geworden. In und mit ihr könne sie sich freier ausdrücken. Damit beschreibt Alioth etwas, was mich immer schon zu faszinieren vermochte: Das Gefühl von Freiheit, wenn man nicht in der eigenen Muttersprache schreibt. Ein Phänomen, das im Literaturkontext immer wieder auftaucht. Aber ich schweife ab. Zurück zu den Überlebenden. Der Ausgangspunkt für den Roman ist Gabrielle Alioths eigene Geschichte der Emigration. Gekonnt moderiert von Sabine Graf, Intendantin des Zentralschweizer Literaturhauses in Stans, nimmt uns die Autorin an der Hand und gibt Einblick in die komplexe Familiengeschichte aus der Sicht verschiedener Generationen.
Es gab Linzertorte mit dickem Rand, den man aufessen musste.
Gabrielle Alioth
Was hängen bleibt, ist die Frage, was die Überlebenden denn überlebt haben. Alioth verschiebt bewusst die Perspektiven und lässt ihre Figuren die eigenen Sichtweisen erzählen. Jede davon hat ihre eigene Wahrheit. Die Zeit wird zurück gedreht. Während der Lesung besuchen wir Vor- und Nachkriegsgenerationen in ihren Welten. "Jedes Buch ist der Versuch, etwas zu erzählen", sagt Gabrielle Alioth und ich frage mich: Was bleibt, wenn das Schweigen und die Gewalt etwas mit dem Leben gemacht haben?
Kurz nach halb sieben geht der Marathon quasi zu Ende. Als extra Schlussrunde beglücken wenig später Schauspieler Hanspeter Müller-Drossart und Flötist Matthias Ziegler mit ihrer szenisch-musikalischen Lesung "Die Mondfinsternis". Theres Roth-Hunkeler bedankt sich für das gemeinsam Erlebte und ich bin erleichtert, dass alle alles überlebt haben. Mein Dasein als Schwamm wird noch eine Weile andauern, aber vieles davon sickert dorthin, wo es soll: In die Tiefe. Nach einem langen Tag spaziere ich noch etwas triefend Richtung Bahnhof - voller Eindrücke, Denkanstösse und Dankbarkeit.
PS. Und dann, grad als ich gehen wollte, spricht mich Ladina an, die ich in dem Moment nicht als Ladina erkannte. Ich glaube, wir haben vor vielen Jahren mal zusammen Tennis gespielt, sagt sie und blickt mich fragend an. In meinem Hirn rattert es, mein Leben wird zurückgespult und bleibt mitten in meiner Jugend stecken. Aber natürlich, sage ich und muss lachen. Tennis. Ich war unfassbar schlecht darin. Und dann überkommt mich die Freude darüber, wie klein diese Welt doch ist, so klein, dass plötzlich eine Engadinerin vor mir steht, die meine Liebe für die Literatur teilt und ich nichts davon wusste. Welch ein Geschenk!